„Es ist irreal, aber man kann nicht aufgeben“
Andriy Styervoyedov spricht darüber, wie ein neuer deutsch-ukrainischer Exzellenzkern zum Wiederaufbau der ukrainischen Forschung beitragen soll
Die Fakultät für Physik und Technologie der W.-N.-Karasin-Universität liegt am Nordrand Charkiws, nur rund 25 Kilometer trennen es von der russischen Grenze. Es ist der Teil der ukrainischen Stadt, der der Grenze am nächsten kommt. Die Fenster des quaderförmigen Gebäudes sind zerbrochen, einen Teil der ockerfarbenen Fassade zeichnen Brandspuren. Jetzt sieht das Institut nach Ruine aus, aber vor dem Krieg wurde hier die gemeinsame deutsch-ukrainische Spitzenforschung geplant. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Charkiw arbeiten unter anderem mit Forschenden aus der Abteilung von Stuart Parkin am Max-Planck-Institut für Mikrostrukturphysik in Halle zusammen – im Exzellenzkern Plasma-Spin-Energie, den das Bundesforschungsministerium ab dem 1. Juni 2024 für vier Jahre mit 2,5 Millionen Euro fördert. Zu dem Team gehört Andriy Styervoyedov, der aus der Ukraine stammt und seit Februar 2015 in Halle (Saale) an neuen Materialien für die Spintronik forscht. Im Interview spricht er über die Situation seiner Kolleginnen und Kollegen in Charkiw, darüber, wie der Wiederaufbau der ukrainischen Forschung vorbereitet wird und über die Pläne für die Zeit nach dem Krieg.
Interview: Peter Hergersberg
Herr Styervoyedov, wie geht es ihren Kolleginnen und Kollegen in Charkiw?
Andriy Styervoyedov: Ich versuche die Leute an meiner ehemaligen Fakultät regelmäßig zu kontaktieren, um zu erfahren, wie es ihnen geht. Die Situation ist nicht wirklich gut rund um Charkiw. Es gibt dort immer wieder Alarme, und in Meetings hört man hin und wieder auch Explosionen. Gerade bei den Gleitbomben kommt der Alarm manchmal erst nach dem Knall. Meine Kollegen sind bereits an diese Situation gewöhnt, obwohl sie oft weder Strom noch Heizung haben. Im Winter beträgt die Temperatur in einigen Labors oft nur fünf bis sechs Grad.
Wie kann man unter den Bedingungen und so nah an der Front noch Forschung betreiben?
Es ist ein bisschen irreal, aber man kann nicht einfach aufgeben. Also arbeiten die Kollegen in Charkiw so gut es geht weiter, auch an unserem Projekt. Gemeinsam entwickeln wir neue Methoden zur Herstellung atomarer Schichten für die Spintronik und neue Plasmaquellen. Sie werden erst in Halle entstehen und nach Charkiw gebracht, wenn der Krieg hoffentlich irgendwann mal zu Ende ist.
Die Gruppe von Stuart Parkin erforscht die Spintronik, die den Spin von Elektronen als Informationsträger nutzt und nicht wie herkömmliche Elektronik deren Ladung. Worum geht es bei dem Projekt Plasma-Spin-Energie?
Die Spintronik kann Computer schneller und energieeffizienter machen. Dafür entwickeln wir Bauteile aus sehr dünnen geordneten und reinen Schichten verschiedener Materialien. Unsere Partner von der Karasin-Universität haben viel Erfahrung mit der Plasmatechnik, mit der sie normalerweise dickere Schichten etwa für Medizintechnik erzeugen. Zusammen entwickeln wir jetzt Geräte, um mit der Plasmatechnik sehr dünne Schichten zu erzeugen. Dafür müssen wir die chaotischen Prozesse im Plasma besser kontrollieren. Wir haben auch schon ein paar Ideen, wie das gehen könnte. Es ist also eine Win-win-Situation. Wir helfen nicht nur der Gruppe an der Karasin-Universität, wir profitieren auch von deren Know-how.
Wie gehen Sie in dem Projekt vor, damit die Forschung in der Ukraine nach dem Krieg wiederaufgebaut werden kann?
Wir besetzen hier in Halle jetzt zwei Promotionsstellen, eine Postdoc- und Ingenieursstelle mit Ukrainerinnen und Ukrainern, die nach dem Krieg in die Ukraine zurückkehren. In Charkiw haben wir noch ein größeres Team aus erfahrenen Wissenschaftlern und Ingenieuren, sowie zwei Promotionsstudierenden und zwei Postdocs. Die Plasmageräte werden zwar zunächst in Halle entstehen, aber das Team in Charkiw hilft uns bei der Entwicklung und wird die Plasmaprozesse simulieren. Die ukrainischen Forscherinnen und Forscher werden außerdem online-Zugriff auf die Geräte haben und können Experimente auch aus der Ferne steuern. Dann wird es ziemlich einfach und schnell möglich sein, die neuen Geräte in die Ukraine in Betrieb zu nehmen, weil die Leute dort schon daran ausgebildet sind.
Wie optimistisch sind Sie, dass Sie die neuen Geräte innerhalb der vier Jahre, über die das Projekt läuft nach Charkiw bringen können?
Ich hoffe, wirklich, dass der Krieg bald endet. Für mich begann er auch völlig überraschend. Ich war vom 12. bis zum 19. Februar 2022 in Charkiw, weil wir damals schon mit der Karasin-Universität zusammengearbeitet haben. Und kurz bevor ich in die Ukraine abgeflogen bin, hat Stuart Parkin mich noch angerufen und sagte, ich solle nicht fliegen, weil der Krieg beginnen könne. Ich habe das einfach nicht geglaubt und bin geflogen, da alle Projekttreffen in Charkiw angesetzt waren. Noch am 18. Februar war die Situation Charkiw völlig normal, die Leute saßen in Cafés und in Restaurant, kaum jemand schien mit dem Krieg zu rechnen. Ich hoffe, dass der Krieg so plötzlich endet, wie er begonnen hat. Und wir können nicht mehr tun, als dafür vorbereitet zu sein. Wir haben auch viele Pläne für die Zeit nach dem Krieg. Wir wollen langfristig zusammenarbeiten, nicht nur für vier Jahre. Dann wollen wir unsere Entwicklungen auch kommerzialisieren und ein deutsch-ukrainisches Spin-off-Unternehmen aus dem Exzellenzkern gründen, das vielleicht neue Ideen für die Forschung bringen wird.